Das Ufer

von S. Maria Ahlert

 

»Verdammt noch mal!« Laut stöhnend lud er sein Gepäck ab. Nur den beigefarbenen Jutebeutel, seinen ständigen Begleiter, behielt er über der Schulter. Schnaufend blickte er sich um, während er sich durch den aschgrauen Bart strich. 

   Das durfte nicht wahr sein! Es war noch schlimmer als vergangene Woche. Da konnte er sich wenigstens einen schmalen Weg bahnen. Jetzt war das Ufer von Müll übersät. Überall türmten sich Flaschen aus Kunststoff und Glas, Dosen, Pappverpackungen. Sogar diese dünnen Plastiktüten, die von den Händlern eigentlich gar nicht mehr ausgegeben werden durften, wehten umher. Nicht mehr lange und man würde den Sand unter dem ganzen Dreck kaum noch erkennen. »Verdammt noch mal!«

    Zu seiner Linken entdeckte er einen kaputten Fußball. Er hob ihn auf und nahm ihn unter die Lupe. Durch einen Riss war die Luft entwichen, ansonsten sah er neu aus. Umständlich stopfte er ihn in den Stoffbeutel. Gleich heute Abend würde er daraus ein Behältnis für eine seiner Topfpflanzen basteln. Upcycling nannte man das wohl heute. Er schüttelte den Kopf. Warum es dafür einen neuen, noch dazu ausländischen Begriff brauchte, leuchtete ihm nicht ein. In seiner Jugend war es vollkommen normal, Dinge wiederzuverwenden und aus Alt Neu zu machen, statt alles sofort wegzuschmeißen, nur weil es nicht mehr In war. Er besaß eine ganze Sammlung an Knöpfen und Stoffresten, Schnüren, Scheren, Sägen und anderem Werkzeug. Bei den Gören von heute musste man hingegen froh sein, wenn sie überhaupt einen Faden durchs Nadelöhr bekämen. »Faules Pack!« 

    Er scannte den Boden nach dem nächsten Fund ab und fand ihn sogleich. Mit einer für sein Alter beachtlichen Geschwindigkeit schnellte er nach vorn, beugte sich hinunter, fischte einen länglichen Gegenstand aus dem Müllberg und war binnen weniger Sekunden wieder vollständig aufgerichtet. 

    »Pah«, stieß er hervor, während er das Objekt hochhielt und im Licht der brütend heißen Mittagssonne betrachtete. »Diese Mistdinger sind längst verboten!« Wütend ballte er die Faust um den Strohhalm, sodass das Plastik knackte. Im gleichen Moment raschelte es hinter ihm. Er fuhr herum. Spitzte die Ohren. 

    Hatte er dort jemandem im Gebüsch gesehen?

    Wieder ein Rascheln.

    Er kniff die Augen zusammen. Hätte er bloß seine Brille mitgebracht. Die lag noch auf der Kommode und wartete auf einen neuen Bügel. 

    Er wollte gerade auf die Quelle des Geräusches zugehen, da stieß etwas aus dem Gebüsch hervor. Ein ungewohnt hoher Laut entwich seinen Lippen. Er taumelte. Blieb mit der Sandale an einem alten Klappstuhl hängen. Fiel nach hinten. Plötzlich war der Himmel nicht mehr über, sondern vor ihm. Der Vogel, der eben noch im Gebüsch gesessen und geraschelt hatte, flatterte fluchtartig durch die Lüfte und verschwand – nicht aber, ohne ihm vorher ein Präsent zu bescheren. »Verdammt noch mal!«, schimpfte er lauter als beabsichtigt und wischte sich den feuchtwarmen Glücksbringer von der Stirn. 

    Sein Schädel brummte vom Aufprall. Glücklicherweise war er mit dem Kopf nicht auf eine der Glasflaschen oder gar die Mikrowelle gefallen, die neben ihm lag und bei der er sich wunderte, wie sie überhaupt hergekommen war. Er rappelte sich hoch, klopfte sein ausgeblichenes Hemd ab und hob den Beutel auf, der ihm beim Sturz von der Schulter gerutscht war. 

    »Ich bin zu alt für diesen Mist!« 

    Würde jeder den eigenen Dreck beseitigen, statt ihn für andere liegen zu lassen, müsste er jetzt nicht hier sein und aufräumen.

    Wieder ließ er den Blick über das einst schöne Ufer schweifen. Wut brodelte in seinem Bauch. 

    »Verfluchte Möchtegern-Umweltschützer!« 

    Er holte aus und kickte einen der am Boden liegenden Becher zur Seite. Sofort schoss ihm das Bild der drei Jugendlichen ein, die er fast täglich vor dem Café an der Ecke beobachtete. Selbstgefällig lehnten sie an der Häuserfassade, schlürften überteuerten Bio-Kaffee mit aufgeschäumter Sojamilch aus immer neuen Pappbechern mit Plastikdeckeln und kamen sich dabei vor wie Greta Thunberg höchstpersönlich. Er schnaufte. Nur zu gern würde er der Bande mal zeigen, was er von ihrem Getue hielt. Aber das musste warten. 

    Er drehte sich um und nahm sein Gepäck wieder auf. Das grelle Pink des Stoffes brannte in seinen Augen. Stück für Stück zog er es über den Müll hinweg das Ufer entlang. Zwischen den aufgeschütteten Dünen machte er Halt. Zufrieden stellte er fest, dass sein geheimer Komposthaufen von letzter Woche unangetastet war. 

    Er zog eine kleine Schaufel aus seinem Jutebeutel und begann, direkt daneben zu graben. Immer wieder lugte er über die Schulter, doch niemand störte ihn. Als das Loch tief genug war, schob er sein Gepäck hinein. Auch wenn er kräftiger war als sein hagerer Körper vermuten ließ, musste er dafür alle Kraftreserven mobilisieren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die silbernen Billigarmbänder nahm er an sich, genau wie die hässliche Kunstlederhandtasche. Beides würde er gesondert entsorgen. Er wusste schließlich, wie man richtig recycelt. Beim Rest versicherte er sich, dass die Materialien biologisch abbaubar waren. Zu seinem Erstaunen bestand sogar der pinke Fetzen aus reiner Baumwolle. Anschließend schüttete er das Loch des neuen, zweiten Komposthaufens zu. 

    Mit einem Lächeln betrachtete er sein Werk. Ein weiterer Umweltsünder weniger, dachte er und wandte sich zum Gehen.